Hallo, ich bin fett!


Source: https://offbeatbride.com/wedding-body-shaming/
Hallo, ich bin fett! So stelle ich mich mittlerweile außerberuflich vor. Fett sein ist eine Tatsache und einer Tatsache entziehe ich mich nicht. Und: Fett sein ist überhaupt nichts schlimmes.
Seit Jahrhunderten feiern wir das Bild der schlanken Frau. Denn nur wer dem gesellschaftlichen Ideal entspricht gilt als gesund und schön. Aber was meinen wir, wenn wir gesund sagen? Kann nicht jeder selbst entscheiden, ob er mit seiner Gesundheit zufrieden ist oder nicht?

Laut Definition bedeutet Gesundheit "keine Störung im körperlichen, psychischen und geistigen Wohlbefinden aufweisen und durch Krankheit nicht beeinträchtigt sein". Geht man rein von der Population aus, bezieht sich das Wort Gesundheit auf das geringste Maß der Krankheitslast. Würde ich diese Definition nun auf mich selbst beziehen - oh Boy, sieht ja gar nicht gut aus.   Denn ich bin psychisch krank. Liebe Mediziner, bitte setzt euch jetzt lieber: es liegt nicht an meinem Gewicht. Ich weiß, schockierend, denn ihr dachtet immer, alle meine Probleme rühren vom Dicksein. Egal bei welchem Arzt ich war, egal um was es ging, selbst um eine simple Erkältung: mein Gewicht war immer schuld. Als wäre es ein Monster, dass immer anwesend sein musste. Als ich dann das erste mal bei einer Psychotherapeutin war, mit süßen 13 Jahren, musterte sie mich erst mal von oben bis unten. Damals fiel es mir unglaublich schwer mich zu öffnen und Menschen zu vertrauen, vor allem Menschen, die mir fremd waren. Kommen wir nun also zu meiner ersten Sitzung. Hinter mir liegen lange Wochen der schweren Depression, Panikattacken und Ausflüchten. Sie saß mir nun gegenüber, ich hatte große Hoffnung, dass es nun besser wird - und dann stellte sie mir diese eine Frage. Die Frage, die jeder dicke Mensch nicht mehr hören kann und zum Teil auch fürchtet: "liegt es an ihrem Gewicht?" Ich konnte sie nur anstarren. Ich war schockiert. Traurig. Wütend. Dieser Mensch hätte mir helfen sollen. Stattdessen wurde mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Ich habe mich gefühlt wie im freien Fall und wusste seit diesem Moment, dass ich Ärzten mit Sicherheit nicht mehr trauen kann.

Eines der großen Probleme für dicke Menschen ist: wir werden nicht ernst genommen. Für viele ist der Weg zum Arzt ein Horrorkabinett. Nicht, weil die Umwelt so gruselig ist. Nicht, weil man sich für sich selbst schämt. Sondern weil man vorher schon weiß, was der Arzt einem sagen wird. Sie müssen abnehmen! Das ist nicht gut für Ihre Gesundheit! Denken Sie an Ihre Zukunft! Denken Sie an Ihre Gesundheit! Dabei denke ich doch schon an meine Gesundheit, wenn ich zum Arzt gehe, oder? Muss ich mir diesen Vortrag wirklich anhören, wenn ich die Grippe habe? Und was genau hat die Grippe mit meinem Gewicht zu tun? Bekommen nur dicke Menschen die Grippe? WIRD DIE WELT JETZT ZUGRUNDE GEHEN?! Nein. Ich bin dick, ich darf krank sein. Ich bin dick, ich muss die selbe Behandlung bekommen dürfen, wie der dünne Patient vor mir. Ich bin dick, wenn ich Schmerzen habe, will ich, dass man mich ernst nimmt. Dicke Menschen verdienen eine gute medizinische Betreuung. Viel mehr noch: dicke Menschen müssen medizinisch gut betreut werden. Denn unter all dem Fett sind wir immer noch - richtig, Menschen. Dass ein dicker Mensch durch fatshaming, welches  tief in unserer Gesellschaft verankert ist, fehldiagnostiziert wird ist nicht selten.

Hier ein Zitat von Psychologin Joan Chrisler:
"In der Medizin kann respektloses Verhalten gegenüber Menschen mit Übergewicht die Patienten beschämen. (..) Für die Kranken ist das purer Stress und kann dazu führen, dass sie zu spät oder gar nicht ärztliche Hilfe aufsuchen."
Außerdem besteht die Gefahr, dass Beschwerden von dicken Menschen nicht ernst genommen werden (siehe oben). Symptome werden auf das Gewicht geschoben, weitere Untersuchungen finden gar nicht erst statt, und die eigentliche Ursache wird nicht entdeckt.
Bei dicken Menschen werden so häufiger Krankheiten "übersehen" - allein wegen fatshaming. Weil auch Ärzte und Pfleger Vorurteile gegenüber dicken Menschen haben. Mediziner sehen in uns nur eine wandelnde Krankheit, uns wird unterstellt, dass wir faul sind und uns überfressen, dass wir keine Disziplin haben und sowieso Schuld daran sind, dass es uns schlecht geht. Fatshaming kostet vielen dicken Menschen das Leben. Krebs, Herzkrankheiten, Lungenkrankheiten etc., werden entweder gar nicht oder erst viel zu spät erkannt.

Ein Beispiel aus meiner medizinischen Vergangenheit: dass ich extrem große Zysten am rechten Eierstock hatte wurde über Jahre hinweg nicht erkannt. Obwohl ich oft bei Frauenärzten (ja, Plural) war, wurde es immer auf die Hormone geschoben. Kannst Du erraten wieso? Genau. "Bei Menschen mit Übergewicht ist das normal." Dieser Satz verursacht bei mir Brechreiz. Ich hatte teilweise so starke Schmerzen, dass ich bewusstlos geworden bin. Blutungen, die über Monate anhielten. Das geht jetzt seit 10 Jahren so. Und es wurde bisher immer noch keine Diagnose gestellt. Ich solle abnehmen, das wurde mir geraten. Dass das mit dem Gewicht kaum etwas zu tun hat, sondern ich einfach Erbkrankheiten in meiner Familie habe interessiert dabei niemanden.
Dass solche Aussagen von Ärzten nicht nur körperlich noch kränker machen, sondern auch die Psyche schädigen - ist das egal? Mit gerade mal 8 Jahren habe ich eine Essstörung entwickelt. Weil mir die Außenwelt immer zu spüren gegeben hat, dass ich so nicht in Ordnung bin und dringend etwas ändern muss.

Wenn du das jetzt als dünner Mensch liest - was schießt dir in den Kopf? Was für Gedanken hast du, wie fühlst du dich? Wirst du auch so behandelt? Oder doch eher.. menschlicher?
Schreib es mir in die Kommentare. Aber noch wichtiger: hinterfrage. Auch wenn es dich selbst nicht betrifft.

Und wenn wir schon beim Thema Gesundheit sind: zum Ende noch ein kleiner Denkanstoß für euch: Von 2000 bis 2018 hat sich die Zahl der an Depression erkrankten Jugendlichen um das fast siebenfache gesteigert. Erschreckende Zahlen, findest Du nicht auch?


Aber heute stehe ich hier und sage euch allen: Das ist kein "normalizing obesity" post. Es ist ein ich bin in Ordnung, so wie ich bin post. Ich habe das Recht zu existieren als dicker Mensch, ohne mit falschen "Gesundheitsbedenken" und Hass überschüttet zu werden. Dick sein ist okay. Ich bin okay. Du bist okay. Und entgegen aller Meinungen lebe ich noch. 
Und hallo,
ICH BIN FETT!

Was sind eure Erfahrungen mit Ärzt/-en/-innen? Schreibt es uns in die Kommentare oder über Insta! (@wirmuesstenmalreden)



*Es werden hier natürlich alle Geschlechter gemeint. 

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