Cay und Identität



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Ich bin Türkin.

Habe ich diese Worte ausgesprochen, stelle ich mir vor, ich sitze in einem Stuhlkreis der anonymen Türken. 

Bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr habe ich das nämlich immer wieder vehement abgestritten. Neee, du, ich bin doch Deutsche mit Migrationshintergrund! Dabei das Deutsche natürlich immer betont. Dabei habe ich doch keinen Hintergrund, sondern wurde einfach in einem deutschen Krankenhaus in die Welt katapultiert. Meine Papiere sagen nämlich: du bist deutsch. Dass das Türkische dabei überhaupt keine Rolle spielt, obwohl meine Familie eigentlich aus der Türkei kommt, habe ich mir immer und immer wieder eingeredet. Das ist nämlich schon so lange her, dachte ich mir, damit habe ich doch schon lange nichts mehr zu tun.

Ich schätze, irgendwo auf dem langen Weg habe ich meinen Draht zur Türkei abgerissen und wusste nicht mehr, wo ich den Rest davon verloren habe. Obwohl wir jedes Jahr mehrere Tage mit dem Auto in die Türkei gefahren sind, habe ich mich nie wirklich zu Hause gefühlt. Klar, ich habe mich gefreut meine Familie wieder zu sehen, aber so richtig Schmetterlinge im Bauch hatte ich nicht. Dabei ging es doch "in die Heimat", wie ich es so oft von anderen gesagt bekommen hatte. Also warum war ich die einzige, die ihre Heimat nie erkannt hat? Als ich älter wurde, realisierte ich warum. Ich saß zwischen zwei Stühlen.

1961 schloss die Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen mit der Türkei, innerhalb von 12 Jahren, bis 1973, kamen ca. 867.000 Menschen um im fremden Deutschland zu arbeiten. Davon profitierte nicht nur die Türkei, sondern vor allem auch die Nachkriegswirtschaft Deutschlands. Rund 500.000 Rückwanderungen fanden statt - der Rest blieb. Unter ihnen, meine Familie. Mein Opa kam 1973 nach Deutschland und legte somit den Grundstein für unser heutiges Leben, wofür ich ihm immer dankbar sein werde. Denn, wenn ich so überlege, geht es uns eigentlich gar nicht so schlecht mittlerweile. Das war aber nicht immer so. Insbesondere türkische Arbeiter wurden von allen Gastarbeitergruppen als am ehesten "fremd" angesehen - und erlebten damit häufig Diskriminierung. Von Beginn an wurden diese Menschen in Stadtteile mit einem hohen Anteil sozial schwacher Wohnbevölkerung gezwängt. (Auch genannt: "ethnische Kolonien") Sie blieben unter sich, eine Integration fand kaum statt, von Deutschen kam selten ein Annäherungsversuch. Dass viele von diesen Gastarbeitern bis heute kaum oder nur sehr wenig deutsch sprechen ist daher nicht verwunderlich. In meinem persönlichen Umfeld waren es immer die Menschen, die damals zugezogen sind. Ältere Menschen, denen nie gezeigt wurde, dass sie dazu gehören, denen nie vermittelt wurde, dass auch sie ein Teil von Deutschland sind. Aber es bleibt nicht nur bei der Sprache, auch Bildung wurde vielen regelrecht verweigert. Viele kamen nicht über die Hauptschule hinaus. Meinem Vater, zum Beispiel, wurde die Realschule nicht erlaubt. Auf der Hauptschule sind ja mehr Türken, da fühlt er sich doch bestimmt wohler, nicht? Integration ist zweigleisig. Wenn man eine Pflanze nicht wässert, dann braucht man sich nicht wundern, wenn diese aufhört zu blühen.


Dabei gibt es heute mehr als 80.000 Unternehmen, die von Türkischstämmigen in Deutschland betrieben werden, mit mehr als 400.000 Beschäftigten und 36 Milliarden Euro Umsatz. Und das mit zunehmender Tendenz. Das zeigt doch sehr deutlich, wie hoch allein die wirtschaftliche Bedeutung dieser Zuwanderergruppe heute ist. Und hört man sogar auf die Menschen nur als Zahlen zu sehen, merkt man, dass wir Türken ganz eindeutig ein großer Teil dieses Landes sind. Sei es Bildung, Arbeitsmarkt, Politik oder Nachbarschaft, wegdenken kann man uns nicht mehr. Aber hat sich seitdem wirklich so viel geändert?

So sitze ich also hier, zwischen meinen zwei Stühlen und denke mir, es ist doch eigentlich ganz gut, dass ich türkische Wurzeln habe. Doch bis ich an diesen Punkt gekommen bin, habe ich viel Schmerz ertragen müssen. Identitätskrise lässt grüßen.

In Deutschland als sogenannte "Migrantin" aufzuwachsen, hat mich sehr geprägt. Als junges Mädchen habe ich nicht verstanden, was mich von meinen Mitmenschen unterschieden hat. Dass ich irgendwie anders bin habe ich erst gemerkt, als ich anfing zur Schule zu gehen. Die Lehrer haben sich nie bemüht meinen Namen richtig auszusprechen, mein Vorname wurde ständig mit dem Nachnamen verwechselt, schrieb ich gute Noten wurde ich belächelt und mir wurden Sätze ins Gesicht geknallt wie "für jemanden wie dich ist das wirklich gut", wurden Klassensprecher gewählt war ich immer die letzte, die in Frage kam. Lange dachte ich es läge nur an mir, dass ich als Mensch einfach nicht gut genug bin. Wohlgemerkt: das war in der fünften und sechsten Klasse. So etwas sollte einem in dem Alter nicht in den Sinn kommen. 

Nicht nur in der Schule blieb es dabei, auch als ich später in das Berufsleben einsteigen wollte, wurde es nicht einfacher. Über 200 Bewerbungen musste ich schreiben, während meine deutschen Mitbewerber mit gerade mal 5 Bewerbungen gut zurecht kamen. Bei Vorstellungsgesprächen wurde ich gefragt "wie es denn so aussieht mit dem Deutsch", ob ich "das deutsche Alphabet beherrsche", ob ich weiß, dass "hier keine Kopftuchtürken toleriert werden" und ob ich mir sicher wäre, dass ich einen kaufmännischen Beruf ausüben könne, denn das erfordert ja zumindest ein geringes Maß an Intelligenz. Das ist schon so schwachsinnig, da fehlen einem die Worte. 
  Diskriminierung und Rassismus sind für mich also mittlerweile schon Alltag, denn ich bin damit aufgewachsen und kenne es nicht anders. Was macht man also in einer Situation, in der es keinen anderen Ausweg gibt, als sich anzupassen? Irgendwann rebelliert man, versucht so unauffällig wie möglich zu sein, leugnet seine Herkunft, den Namen, die Traditionen, nur, um nicht länger ausgeschlossen zu werden. Man leugnet plötzlich all das, mit dem man erzogen wurde, die guten Dinge, die schlechten Dinge und vor allem das, was eigentlich sehr normal ist. Bis man plötzlich realisiert, dass dieser Zwang nicht von einem selbst kommt, sondern von denen, die nicht wollen, dass man richtig dazugehört. Und dann merkt man, schleichend, dass man nicht im falschen Land geboren wurde, sondern genau im Richtigen und dass man gut ist, genau so wie man ist. Also warum sollte ich mich verbiegen und verändern, aufgeben wer ich bin, nur weil sich andere damit unwohl fühlen? Ihr Unwohlsein hat nichts mit meinem Recht auf ein freies Leben in diesem Land zu tun. Aber was noch wichtiger ist: ihr Unwohlsein ist unbegründet.

Mein Tipp? Selbstbewusst auftreten. Steht zu euch selbst. Stellt euch mit eurem richtigen Namen vor, und nicht mit dem eingedeutschten. Wenn euer Gegenüber es nicht versteht, bleibt sachlich. Den komplizierten Namen ihres polnischen Nachbars können sie doch auch aussprechen, oder? Warum dann nicht auch unsere? So schwer ist das eigentlich nicht - man muss es nur wollen.

Fragt man mich also: bist du Deutsche oder Türkin, so sage ich, ich bin beides. Es ist nicht nur eine Seite, die mich geprägt hat, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Dazu gehört noch viel mehr. Ich stehe zu meiner Herkunft, sowohl zu meiner Ersten als auch meiner Zweiten. Viele mögen das nicht verstehen oder sogar absurd finden, aber für mich wurde das über die Jahre immer deutlicher.

Ich bin Türkin.
Ich bin Deutsche.

Und ich bin noch viel mehr als das.
Ich bin ein Mensch, der in vielen Dingen begabt ist. Ein Mensch, mit Ecken und Kanten.
Denn meine Herkunft ist nicht das Einzige an mir, das interessant ist.
Aber sie ist wichtig.

An people of color: Was sind eure Erfahrungen in Deutschland, als nicht "blutsdeutscher" Mensch? Hattet ihr schon jemals eine Identitäskrise? 
An weiße Menschen: Was tut ihr und was könnt ihr tun, um PoC dabei zu helfen, sich in Deutschland willkommen und erwünscht zu fühlen? 
Ein Tipp: Vermeidet es "nicht-weiß" aussehende Menschen zu fragen, wo sie denn nun eigentlich wirklich herkommen. 

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