Wieso hast du solche Angst?

Panik. Ich sitze im Zug und plötzlich, innerhalb von einem Sekundenbruchteil, bekomme ich Angst. Mein Herz rast, ich schwitze, Speichel sammelt sich in meinem Mund, ich möchte mich übergeben, gleichzeitig weinen und zusammenbrechen, ich denke ich sterbe, denke ich habe einen Herzinfarkt, denke ich kippe gleich um. Ich kann nicht atmen.
Von außen betrachtet bin ich nur ein Mensch mit Kopfhörern, der im Zug sitzt. Doch innerlich tobt ein Krieg, den man zu verlieren droht. Ich habe eine Panikattacke. Ich reiße mir die Kopfhörer raus, stehe auf, laufe, laufe schneller, ich will hier nur raus, bitte, einfach nur raus. Hektisch laufe ich an die Tür und warte bis der Zug hält und ich rennen kann. Ich brauche frische Luft sonst sterbe ich, denke ich mir noch, bis die Tür sich endlich öffnet und mir die Freiheit ins Gesicht schlägt.

Das war das letzte Mal, dass ich in einen Zug gestiegen bin.

Nicht nur durch Gefühle zeigt sich die Angst, sondern vor allem durch körperliche Symptome. Für unser Gehirn ist es egal, woher die Angst kommt. Wittert es Gefahr, setzt es Mechanismen in Gang, die es sich über Jahrtausende angeeignet hat. Ob es sich dabei um eine reale Gefahr handelt interessiert dabei nicht. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atemwege erweitern sich, die Pupille wird vergrößert, wir schwitzen und zittern, dazu kommen Schwindel und Übelkeit. Und das sind nur ein paar der Symptome, die unseren Körper befallen. Bei jedem Menschen fallen diese Unterschiedlich aus. Aber eins hat die Angst bei allen gemeinsam: sie krempelt das Leben einmal gehörig um.

Dass mein Leben vor der Angst ein anderes, vielleicht besseres war, habe ich erst realisiert, als es schon zu spät war. Noch nie zuvor habe ich realisiert wie frei ich war. Nicht nur im körperlichen oder geistigen Sinne, ich konnte auch Entscheidungen treffen, ohne in Panik zu geraten.
Viele Dinge sind nach meiner ersten Panikattacke schier unmöglich geworden: in den Urlaub fahren, Ausgehen, Kino, Konzerte, Einkaufshäuser, Arztbesuche, Arbeit. Alles was früher selbstverständlich zu sein schien wurde plötzlich von einem Schmerz überschattet, der sich mit nichts vergleichen ließ. Ich hatte nicht nur Angst. Es war pure, rohe Panik.
Sich damit zu arrangieren war in den ersten Monaten einfach nicht machbar. Ich wollte und konnte nicht begreifen, dass sich mein Leben innerhalb von einigen Minuten - und ganz plötzlich - geändert hatte. Ich hielt am Alten fest, ich konnte nicht loslassen, ich wollte nicht akzeptieren. Akzeptieren, dass alles plötzlich anders war. Dass ich nicht mehr in der Lage war für mich zu sorgen, denn ich konnte weder einkaufen, noch mich zum rausgehen überwinden - geschweige denn arbeiten. Und das als jemand, der schon früh selbstständig werden musste. Mit der Angst ist es so, als würde man mir einen großen Stein an die Beine binden und erwarten, dass ich schwimme. Aber ich konnte nicht schwimmen. Gegen den Stein anzukämpfen hat mir solche Kraft geraubt, dass ich nicht mehr dazu fähig war, mich an die Oberfläche zu ziehen.

Aber da bin ich nicht die Einzige. In Deutschland leiden 6,9 Millionen Menschen an einer Angststörung. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit um einiges höher. Hierbei ist Angststörung nur der Überbegriff - es gibt verschiedene Formen der Angst, wie zum Beispiel die Sozialphobie, Panikstörung, Agoraphobie, generalisierte Angststörungen oder andere phobische Störungen sowie Zwänge. Mehr als die Hälfte der Betroffenen lässt sich behandeln, rund 20 % aber sind nicht in Behandlung.

Was ich oft gehört habe, nicht nur von Therapeuten, sondern auch von außenstehenden, war die Frage nach dem Wieso. Wie wurde die Angst ausgelöst? Auslöser. Das große Wort. Was war der Auslöser? Ein Grund. Wieso hattest du solche Angst? Was ist passiert?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht was der Auslöser war, vielleicht gab es keinen, vielleicht will ich es nicht wissen, vielleicht war es nichts. Denn nach diesem alles entscheidenden Moment wurde es nie besser, ich habe nie wieder so gelebt wie vor der Angst, habe nie wieder unbeschwert und frei ich sein können. Denn so mutig wie es ist mit einer Angststörung auf beiden Beinen zu stehen, so herzzerreißend mächtig ist auch die Veränderung. Also, ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen. Ich will nicht wissen was mich in diesen Teufelskreis gestürzt hat, ich will nicht wissen wieso ich gefangen bin in den eigenen vier Wänden meiner Angst, ich will es nicht wissen, ich kann es nicht. Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, wollte ich das auch in den Therapien nicht wissen. Konfrontationstherapie, Verhaltenstherapie, verschiedene Medikamente, gut gemeinte Ratschläge, diverse Ärzte - geändert hat sich nichts. Und auch wenn das klingt, als würde sich meine Frustration ihren Platz zurücknehmen wollen, aber so ist es nicht, es ist Akzeptanz.

Akzeptanz.

Akzeptanz, weil ich es nicht ändern kann. Ich kann nicht ändern, dass ich krank bin. Es ist nicht meine Schuld, ich habe nichts falsch gemacht, ich kann es nur eben nicht ändern. Es gehört nun zu meinem Leben dazu, ich lebe mit der Angst, esse mit ihr, schlafe mit ihr, teile mir den Körper mit ihr. Ich muss die Angst ertragen, aber ich lerne auch, ich wachse durch sie, ich akzeptiere. Ja, ich bin jetzt ein völlig anderer Mensch als noch vor ein paar Jahren. Ja, ich habe viele unerträgliche Momente und schlimme Nächte erlebt. Die Frage nach dem "Warum?" interessiert mich nicht mehr. Natürlich ist es schwer, natürlich habe ich extreme Tiefpunkte, natürlich ist es trotz allem ein Kampf. Aber ich lerne. Ich habe gelernt, dass ich stärker bin, als ich es jemals vermutet habe. Ich habe gelernt, dass ich, egal ob Angst oder nicht, mein Leben genießen kann. Aber vor allem habe ich gemerkt, wozu ich in der Lage bin: ich pack mir die Angst auf die Schulter und klettere den Berg hoch. Zu den vielen negativen Seiten kommen auch die positiven. Ich habe mich selbst kennengelernt und konnte meine Grenzen testen - und ausreizen. Auch wenn die Angst mir fast das Leben und die Freude daran genommen hat, ich bin noch hier. Ich werde auch weiterhin hier sein.

Ich habe es akzeptiert.


Eine Liste mit allen Ängsten/Phobien und was man dagegen tun kann findet ihr hier:
https://www.angst-verstehen.de/emetophobie-angst-vor-erbrechen/
Der Link führt direkt zu meiner "speziellen Phobie" - super Begriff.

Oder hier:
https://www.deutsche-depressionshilfe.de
https://www.deutsche-depressionshilfe.de/krisentelefone
http://www.depressionen-depression.net/notfaelle/notfallnummern.htm (nach Bundesländern)

Falls ihr merkt, dass es jemandem, den ihr kennt nicht gut geht, sprecht die Person darauf an und holt Hilfe. Hier muss niemand alleine etwas bewältigen müssen.
Sollte es Dir schlecht gehen, so wende dich bitte an Freunde oder Beratungsstellen, Ambulanzen und Ärzte - oder an uns. Du bist nicht alleine, Du wirst nie alleine sein. Und vergesst nicht: Hilfe zu brauen und sich diese zu holen ist KEINE Schwäche, sondern eine Stärke.

Habt ihr Erfahrungen mit Panikattacken und/oder Ängsten? Schreibt es uns in die Kommentare, per E-mail, oder über Instagram! 

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